Otmar Steinbicker
Neue Herausforderungen an den Pazifismus
Gedanken vorgetragen in der Friedenswerkstatt des Kirchentages in Magdeburg und in der Jahrestagung des Internationalen Versöhnungsbundes / deutscher Zweig

Otmar Steinbicker, Foto: Beate Knappe
Pazifismus wird als ethische Grundhaltung definiert, die den Krieg prinzipiell ablehnt und danach strebt, bewaffnete Konflikte zu vermeiden, zu verhindern und die Bedingungen für einen dauerhaften Frieden zu schaffen. Aktionsformen des Pazifismus bestanden zumeist in einer individuellen Verweigerung, am Krieg teilzunehmen oder in Friedenszeiten, den Wehrdienst zu verweigern und gegen Krieg, Kriegsvorbereitungen und Aufrüstung zu protestieren. Doch sind diese Aktionsformen heute noch ausreichend wirkungsvoll?
Seit der Abschaffung der Wehrpflicht ist die Kriegsdienstverweigerung weitgehend obsolet, sie kann nur noch von Soldaten in Anspruch genommen werden, die festgestellt haben, dass sie den falschen Beruf gewählt haben. Das Motto der 1980er Jahre „Stell Dir vor, es ist Krieg und keiner geht hin“ verpufft in absehbaren Zeiten der Roboterisierung von Kriegen.
Heute gilt es Aktionsformen des Pazifismus neu zu definieren im Sinne eines Ausstiegs aus der militärischen Sicherheitslogik und eines Einstiegs in eine Friedenslogik. Dabei ist zu beachten, dass es dabei nicht mehr nur um die individuellen Wünsche und womöglich Idealvorstellungen von Pazifisten geht, sondern darum, dass es keine sinnvollen Alternativen zu einer solchen Art der Friedenssicherung mehr gibt.
Die Evangelische Kirche in Baden (EKiBa) entwickelt auf dieser Basis derzeit ein Ausstiegsszenario aus dem Militär und eröffnet damit einen spannenden gesellschaftlichen Diskussionsprozess, in dem der bisherige „sicherheitspolitische Konsens“ infrage gestellt wird.
Den „sicherheitspolitischen Konsens“ zerbrechen
Den Begriff des „sicherheitspolitischen Konsenses“ prägte Egon Bahr Anfang 1982. Nach den großen Friedensdemonstrationen gegen die Stationierung atomarer Mittelstreckenraketen beim Kirchentag in Hamburg im Mai und im Bonner Hofgarten im Oktober 1981 stellte Bahr fest, dass damit der sicherheitspolitische Konsens in der Bundesrepublik zerbrochen sei. der zuvor in einer überwiegend unkritischen Zustimmung zur atomaren Bewaffnung bestanden hatte. Damit hatte die Friedensbewegung binnen eines Jahres eine erstaunliche Wirkung erzielt. 1988 lehnte die Bundesregierung unter Kohl und Genscher eine von den USA und Großbritannien gewünschte Stationierung atomarer Kurzstreckenwaffen als politisch nicht durchsetzbar ab.
Den „sicherheitspolitischen Konsens“ zerbrechen
Im Juni 1988 diskutierten bei einer Tagung in der Ev. Akademie in Loccum erstmals Militärs aus Ost und West, aus Bundeswehr und DDR-NVA gemeinsam mit Diplomaten und Journalisten aus Ost und West ernsthaft über Probleme einer gemeinsamen Sicherheitspartnerschaft. Dabei formulierten sie ihre gegenseitigen Sorgen über Bedrohungsszenarien der jeweiligen Gegenseite und kamen gemeinsam zu dem Schluss, dass ein neuer großer, weiträumig geführter Krieg zur Vernichtung der europäischen Zivilisation führen müsste, selbst dann wenn es gelänge, ihn auf eine konventionelle Kriegführung zu begrenzen. Vor allem die gegenüber 1945 massiv gestiegene Abhängigkeit von Elektroenergie musste nach ihrer Analyse zu inakzeptablen Kriegsfolgen führen. Bei Ausschaltung der Versorgung mit Elektroenergie wäre auch die Sicherheit der Atomkraftwerke nicht mehr zu gewährleisten. Mittlerweile haben weitere Faktoren wie die Abhängigkeit vom Internet diese Problematik verschärft.
Das Ende der Landesverteidigung
Aus alledem wird deutlich, dass es heute für Deutschland und für alle europäischen Staaten einschließlich Russlands in einem großen, weiträumig geführten Krieg in Europa nicht mehr die Möglichkeit der Landesverteidigung gibt. Der Versuch einer solchen „Verteidigung“ würde vielmehr in der Vernichtung aller beteiligten Länder enden. Diese Erkenntnis führt die Sinnhaftigkeit von Militär zur Landesverteidigung ad absurdum.
Wer also heute über neue Herausforderungen an den Pazifismus nachdenken möchte, findet exakt hier einen Eckstein, der die Friedensbewegung zu neuen strategischen Überlegungen zwingen muss.
Wenn der Krieg unter diesen Bedingungen kein Mittel mehr zur Konfliktaustragung sein kann, weil es keinen Sieger mehr geben kann, dann müssen vorhandene und zukünftige zwischenstaatliche Konflikte, die es ja nach wie vor und auch später geben wird, zwingend anders ausgetragen werden als mit militärischen Mitteln.
In diesem Zusammenhang muss auch die NATO problematisiert werden und zwar nicht nur wegen ihres tagesaktuellen Verhaltens, sondern wegen ihrer grundsätzlichen Ausrichtung als System der kollektiven Verteidigung, das einem System der gegenseitigen kollektiven Sicherheit entgegensteht. Ein System der kollektiven Verteidigung definiert sich zwangsläufig über einen gemeinsamen Feind und es kriselt, wenn dieser Feind abhanden zu kommen droht. Weil, wenn es keinen „Feind“ mehr gibt, dann braucht es auch kein Bündnis gegen diesen Feind.
Während des Kalten Krieges waren die Feinde klar definiert: NATO und Warschauer Pakt standen sich mit jeweils Millionen Soldaten bis an die Zähne bewaffnet gegenüber. Nach dem Ende des Kalten Krieges mussten neue „Feinde“ gefunden werden zur Aufrechterhaltung des Bündnisses. Diese Problematik hat im Afghanistan-Krieg und im Ukraine-Konflikt ihre Spuren hinterlassen. Die NATO ist damit zu einem Sicherheitsrisiko geworden. Auch wenn wir sie nicht von heute auf morgen abschaffen können, so sollten wir sie doch in der öffentlichen Debatte problematisieren und den Konsens der Zustimmung in der Bevölkerung zerbrechen.
Wenn sich aber zwischenstaatliche Konflikte in Europa nicht mehr per Krieg lösen lassen, wie dann? Genau dafür benötigen wir das System der gegenseitigen kollektiven Sicherheit, das im Grundsatz 1917 vom damaligen US-Präsidenten Woodrow Wilson entwickelt wurde, und zuerst im Völkerbund erprobt und später in der UNO weiterentwickelt wurde. Die Konferenz für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (KSZE) trug entscheidend zur Beendigung des Kalten Krieges bei. Ihre Nachfolgerin, die OSZE, ist damit die entscheidende Alternative zur NATO. Das sollten wir deutlich formulieren.
Unter der Bedingung, dass Krieg keine Lösung für politische Probleme mehr sein kann, kann es auch für Friedensbewegung nicht mehr ausreichen, nur gegen den Krieg zu sein. Das bringt noch keine Lösung von Konflikten. Wenn Friedensbewegung Frieden will, dann muss sie auch auf politische Lösungen orientieren können, die zum Frieden führen. Auch das gehört zu den neuen Herausforderungen an den Pazifismus.
Militär kann keinen Frieden schaffen, Frieden kann nur politisch geschaffen werden
Die Erkenntnis heißt in der Konsequenz: Militär kann keinen Frieden schaffen, Frieden kann nur politisch geschaffen werden. Dabei spielt der Aspekt der Versöhnung (Reconciliation) eine herausragende Rolle. Auch diese Erkenntnis mag für manchen, der über neue Herausforderungen an den Pazifismus nachdenkt, neu sein. Die Begriffe Reconciliation, Versöhnung müssen wieder neu entdeckt werden. Ich habe sie in den letzten Jahren aus dem Munde von Militärs gehört, nicht innerhalb der Friedensbewegung.
Folgen des Klimawandels
Ein weiterer Aspekt und eine weitere neue Herausforderung an den Pazifismus sind die Folgen des Klimawandels, die bereits in nächster Zukunft weltweit aber auch vor unserer Haustüre unsere Sicherheit bedrohen. Die Gewährleistung der Sicherheit, soweit das möglich ist, wird Unsummen kosten. Da können wir uns die Ausgaben für Militär, das weder für uns Sicherheit noch für andere Regionen Konfliktlösungen schaffen kann, nicht mehr leisten. Von daher sollten wir im Interesse unserer Sicherheit schnellstmöglich aus der Orientierung auf Militär aussteigen.
Damit wir in diesem Sinne erste Schritte gehen können, brauchen wir das Zerbrechen des bisherigen sicherheitspolitischen Konsenses. In diesem Sinne zähle ich auf die Landeskirchen, die wie die Evangelische Kirche in Baden (EKiBa) sich sehr mutig auf diesen schwierigen Weg begeben. Sie haben die neuen Herausforderungen an den Pazifismus verstanden.
Otmar Steinbicker ist Herausgeber des Aachener Friedensmagazins www.aixpaix.de. Seine Beiträge finden Sie hier